Ökologisches Heterogenes Material

Freiheit für die Vielfalt

Der ökologische Landbau braucht widerstandsfähiges und krankheitsresistentes Saatgut, da er sich nicht auf synthetische Mittel wie chemische Düngemittel, Pestizide und Herbizide stützen kann. Die europäischen Saatgutgesetze jedoch erlauben nur die Vermarktung hoch standardisierter Sorten, denen die genetische Vielfalt fehlt, die notwendig ist, um sich an Krankheitsresistenzen und an lokale Anbaubedingungen anzupassen.

Die neue EU-Bio-Verordnung (2018/848), die 2022 in Kraft getreten ist, wird dazu beitragen, dieses Problem zu beheben, indem sie neue Regeln für die Vermarktung von ökologischem/biologischem Pflanzenvermehrungsmaterial mit hoher genetischer Vielfalt schafft.

Die Vision

ARCHE NOAH hat sich für die neuen Saatgutbestimmungen in der EU-Bio-Verordnung eingesetzt. Wir sind davon überzeugt, dass die neuen Vorschriften ein erster Schritt sind, um die Vielfalt der Kulturpflanzen aus bürokratischen Nischen zu befreien, das Recht der Landwirte auf ihr eigenes Saatgut wiederherzustellen und regionale und traditionelle Sorten zurück auf unsere Felder, Gärten und Tische zu bringen - zum Wohle der Umwelt und unserer Ernährung!

Wast ist neu? Durch die Verordnung werden zwei neue Möglichkeiten für die Vermarktung von Saatgut eingeführt, die auf die Bedürfnisse des ökologischen Landbaus zugeschnitten sind. Erstens ermöglicht die Verordnung Bio-Bäuerinnen und Bauern, ZüchterInnen und SaatguterhalterInnen die Vermarktung von "ökologischem/biologischem heterogenem Material" (ÖHM), wie z. B. Populationen und Landrassen. Bisher war es nicht (oder nur in Ausnahmefällen) möglich, solches Saatgut zu vermarkten. Ab 2022 kann ÖHM nach einer relativ einfachen, kostenlosen Notifizierung bei der nationalen Saatgutbehörde EU-weit verkauft werden. Wir von ARCHE NOAH freuen uns darauf, ÖHM im Jahr 2022 zu notifizieren und anschließend zur Verfügung zu stellen! Einen Überblick über die detaillierten Regeln für die Vermarktung von OHM finden Sie hier.

Zweitens führt die Verordnung das Konzept der "für die ökologische/biologische Produktion geeigneter ökologischer/biologischer Sorten" ein. Diese Sorten werden unter biologischen Anbaubedingungen gezüchtet und sind daher auf den Anbau ohne chemische Hilfsmittel zugeschnitten. (Im Gegensatz dazu wurden viele Samen, die derzeit als biologisch verkauft werden, für die konventionelle Landwirtschaft gezüchtet und danach unter biologischen Bedingungen nur vermehrt). Nach einem siebenjährigen "zeitlich begrenzten Versuch", in dem solche Sorten bewertet werden, soll das Verfahren für die Zulassung solcher Sorten (DUS-Kriterien) angepasst werden, um ihre besonderen Merkmale zu berücksichtigen.

 
 

Der Reformprozess

Nach langwierigen Verhandlungen zwischen der EU-Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament wurde 2018 eine neue EU-Verordnung über die ökologische Erzeugung und die Kennzeichnung von Bio-Produkten formell verabschiedet. Ungewöhnlich ist, dass die Bestimmungen über Saatgut in der neuen Verordnung nicht von der Kommission, sondern vom Europäischen Parlament vorgeschlagen wurden. Im Frühjahr 2017 sammelte ARCHE NOAH innerhalb von 14 Tagen über 20.000 Unterschriften, um die Unterstützung des damaligen österreichischen Landwirtschaftsministers für die neue Möglichkeit zur Vermarktung von vielfältigem Saatgut abzusichern.

Die detaillierten Regeln für die Vermarktung von OHM sind in einer delegierten Verordnung festgelegt. ARCHE NOAH hat gemeinsam mit rund 40 Erhaltungs-, Züchtungs- und bäuerlichen Organisationen aus ganz Europa detaillierte Ausführungen an die Europäische Kommission geschickt, um sicherzustellen, dass diese neuen Regeln für verschiedenartiges Saatgut sowie für kleine und mittelgroße Akteure in der Praxis funktionieren und so in Zukunft echte Vorteile für den ökologischen Landbau und die Biodiversität bringen.

 
 

Eine Feier der Vielfalt: Bio-Saatgut-Konferenz 2018

Im Oktober 2018 organisierten ARCHE NOAH und Artemisia Aisbl mit Unterstützung der Grünen/EFA-Fraktion eine Konferenz im Europäischen Parlament zum Thema "Saatgut in der neuen Bio-Verordnung 2018/848". Die Veranstaltung bot die Gelegenheit, die Verabschiedung bahnbrechender Bestimmungen für die Bereitstellung von Saatgut für die Bedürfnisse des ökologischen Landbaus zu feiern, die innovativen Aspekte und Möglichkeiten zu erkunden, die die neuen Vorschriften bieten, und einen Ausblick auf den künftigen Weg für Saatguterhalter*innen, Züchter*innen, Landwirte*innen und Verbraucher*innen zu geben. Mehr dazu hier.

 
 

FAQs

Warum ist die Vielfalt an Nutzpflanzen bedroht?

 
 

Das restriktive EU-Saatgutrecht beschränkt seit Jahrzehnten die Vielfalt von Gemüse, Getreide und Obst in Europa. Nur standardisierte, einheitliche Pflanzen, die für die industrielle Landwirtschaft geeignet sind, werden für den Markt zugelassen. Saatgut von alten und seltenen Pflanzen, die die Standards wegen ihrer innenwohnenden genetischen Vielfalt nicht einhalten können, darf nur in „Nischen“ und unter bürokratischen Auflagen verkauft werden, oder ist ganz verboten. Laut der Welternährungsorganisation FAO sind so allein im 20. Jahrhundert 75% der Kulturpflanzenvielfalt verloren gegangen und der Verlust dauert bis heute an.

 
 

Welche Verbesserungen bringt die Verordnung?

 
 

Die Bio-Verordnung bringt innovative Erneuerungen für die Kulturpflanzen- und Lebensmittelvielfalt. Konkret werden neue, zusätzliche Saatgut-Kategorien geschaffen. Diese neuen Saatgut-Kategorien sind „biologisches heterogenes Material“ und „für biologische Produktion geeignete biologische Sorten“ und gelten für alle Arten. Die neuen Kategorien ermöglichen, dass sich Saatgut an seine Umwelt- und Klimabedingungen flexibel anpassen kann. Das ist derzeit für die gängigen Gemüse- und Getreidearten nicht möglich.

 
 

Welche Vorteile bringt Vielfalt im Klimawandel?

 
 

Die neuen Saatgut-Kategorien legen den Grundstein dafür, dass in Europa Pflanzen entwickelt und angebaut werden, die besser mit dem Klimawandel zurechtkommen. Durch den Klimawandel sind die Pflanzen innerhalb einer Vegetationsperiode zunehmend extremeren Wetterbedingungen ausgesetzt, wodurch auch ein neuer Schädlings- und Krankheitsdruck entsteht. Die Vielfalt liefert eine systemische Antwort auf diese Herausforderungen: Pflanzen dürfen sich über Generationen hinweg „im Dialog“ mit ihrer Umwelt entwickeln, und so mit den lokalen Umwelt- und Klimaherausforderungen wachsen. Gerade im Bio-Sektor ist das wichtig, denn dieser verzichtet auf synthetische Dünger und Spritzmittel.

 
 

Wie helfen die neuen Saatgut-Kategorien der Biodiversität?

 
 

Die Vielfalt von Pflanzen ist heute durch restriktive Gesetze weitgehend von der breiteren Nutzung ausgeschlossen. Deswegen gehen immer mehr natürliche, wertvolle Eigenschaften verloren. In öffentlichen „Genbanken“ werden Samenmuster der bedrohten Pflanzen im Eis eingefroren und gelagert. Doch Vielfalt kann breitflächig nur dann bestehen bleiben, wenn sie auch breitflächig angebaut wird. Nur was gegessen wird, bleibt auch erhalten. Die neuen Saatgut-Kategorien legalisieren den Verkauf von Vielfalts-Saatgut für den Bio-Sektor und befördern so durch Anbau, Nutzung und Konsum die Biodiversität .

 
 

Wie profitieren Bio-Bäuer*innen von der Vielfalt?

 
 

Bio-Bäuer*innen haben mehr Möglichkeiten, Vergleiche zwischen standardisierten Samen einerseits, und flexiblem Vielfalts-Saatgut andererseits zu machen. Sie können durch die neue Verordnung jene Pflanzen anbauen, die am besten zu ihrem Standort passen und von ihren Kund*innen geschätzt werden. Die Entwicklung von Hofsorten und deren regionale Nutzung würde wieder legal werden.

 
 

Wem schaden die neuen Vielfalts-Kategorien für Saatgut?

 
 

Die internationale Saatgutindustrie hat sich auf Sorten spezialisiert, die einheitlich und standardisiert sind – das ermöglicht, geistige Eigentumsrechte wie Sortenschutz oder Patente durchzusetzen, und die Nutzung durch Bäuer*innen einzuschränken bzw. jährliche Gebühren zu verlangen. Viele Gemüse-Pflanzen sind Hybride – also „Einmalsamen“, die jedes Jahr neu gekauft werden müssen. So hat es die Industrie geschafft, in vielen Saatgutsektoren den Markt zu monopolisieren und Abhängigkeiten zu schaffen.

Die neuen Vielfalts-Kategorien für Saatgut können – langfristig – die Macht der Konzerne zumindest im Bio-Sektor verringern, denn die sind nicht sortenschutzfähig und keine Hybride. Es können wieder neue, lokale Züchtungsunternehmen entstehen, die eine Alternative zu den Giganten bieten.